Einige Klärungen aus dem Buch Himmel und Hölle
(einem der Grundwerke der spiritistischen Lehre)
(Fortsetzung 8)
Der Vater und der einberufene Sohn
Am Anfang des Italienkrieges[1] im Jahr 1859 wurde
der Sohn eines Händlers aus Paris, der bei all seinen Nachbarn großes Ansehen genoss, zum Militärdienst einberufen. Da er nicht in
der Lage war, seine Entlassung aus dem Militärdienst zu veranlassen, beschloss er, sich das Leben zu nehmen, damit sein Sohn – als
einziges Kind einer Witwe – verschont wurde.
Ein Jahr später wurde in der Pariser Gesellschaft für Spiritistische Studien die Seele
dieses Mannes auf die Bitte einer Person gerufen, die ihn gekannt hatte und sich wünschte, von seiner Lage in der geistigen Welt zu
erfahren. Davor wurde aber folgende Frage an den Geist des Heiligen Ludwig – den geistigen Leiter der Sitzungen zur Kommunikation
mit Geistwesen in jener spiritistischen Gruppe – gestellt:
(Frage): “Könnten Sie uns bitte sagen, ob wir die Seele des Mannes anrufen
können, von dem wir gerade gesprochen haben?”
(Der Geist des Heiligen Ludwig): “Ja, und das wird ihm große Freude bereiten, denn es
wird ihn ein wenig erleichtern.”
Anschließend wurde die Seele des Selbstmörders angerufen und es ergab sich folgender Dialog:
(Geistwesen): “Oh,
danke! Ich leide sehr, aber … ist gerecht. Dennoch wird er mir verzeihen.”
Anmerkung: Mit Hilfe eines schreibenden Mediums schrieb
das Geistwesen mit großer Schwierigkeit. Die Buchstaben waren unregelmäßig und verzerrt. Nach dem Wort “aber” hielt es kurz inne.
Als es dann versuchte, das nächste Wort zu schreiben, konnte es nur einige Punkte und unkenntliche Striche machen. Alles deutet somit
darauf hin, dass es das Wort “Gott” war, das das Geistwesen nicht schreiben konnte.
(Sitzungsteilnehmer): “Könnten Sie so nett sein
und die Lücke mit dem Wort ausfüllen, das Sie eben ausgelassen haben.”
(Geistwesen): “Ich bin nicht würdig, es zu schreiben.”
(Sitzungsteilnehmer): “Sie
sagen, dass Sie leiden. Sicherlich haben Sie einen Fehler gemacht, als Sie Selbstmord begangen haben. Wird aber Ihr Fehler nicht durch
den Grund gemildert, warum Sie es gemacht haben?”
(Geistwesen): “Meine Strafe[2] wird kürzer sein, dennoch ist meine Tat nicht deswegen
weniger verwerflich.”
(Sitzungsteilnehmer): “Könnten Sie uns bitte Ihre Strafe beschreiben?”
(Geistwesen): “Ich leide doppelt: seelisch
und körperlich. Ich leide körperlich, obwohl ich keinen Körper mehr besitze, so wie ein Patient, der an seinem amputierten Glied Schmerzen
empfindet.”
(Sitzungsteilnehmer): “War es der einzige Grund für Ihren Selbstmord, Ihren Sohn vom Militärdienst zu befreien? Oder gab
es andere Gründe, die zu Ihrer Entscheidung geführt haben?”
(Geistwesen): “Ich wurde nur durch väterliche Liebe geleitet; dabei ließ
ich mich aber schlecht leiten. Dies wird berücksichtigt und meine Strafe verkürzt werden.”
(Sitzungsteilnehmer): “Können Sie ahnen,
wann Ihr Leid zu Ende gehen wird?”
(Geistwesen): “Ich weiß nicht, wann es zu Ende gehen wird. Aber ich bin mir sicher, dass dieser
Tag kommen wird, was für mich eine Erleichterung ist.”
(Sitzungsteilnehmer): “Vorhin konnten Sie das Wort Gott nicht schreiben, obwohl
wir bereits erlebt haben, wie leidende Geistwesen, in einem schlimmeren Zustand als Sie, es schreiben konnten. Ist das vielleicht
ein Teil Ihrer Strafe?”
(Geistwesen): “Dieses Wort werde ich erst schreiben können, wenn ich unter großen Anstrengungen bereue, was
ich getan habe.”
(Sitzungsteilnehmer): “Dann geben Sie sich Mühe und versuchen Sie, es zu schreiben. Denn wir sind uns sicher, dass
dies eine Erleichterung für Sie sein wird.”
Anmerkung: Schließlich schrieb das Geistwesen in unregelmäßigen, zittrigen
und groben Buchstaben den Satz: “Gott ist sehr gut.”
(Sitzungsteilnehmer): “Wir sind sehr froh, dass Sie auf unsere Anrufung hin gekommen
sind, und werden Gott bitten, seine Barmherzigkeit über Sie walten zu lassen.”
(Geistwesen): “Ja, bitte!”
Anschließend stellte man dem
Geist des Heiligen Ludwig folgende Frage:
(Frage): “Könnten Sie uns Ihr Urteil über den Selbstmord geben, den das Geistwesen, mit dem
wir uns gerade unterhalten haben, beging?”
(Der Geist des Heiligen Ludwig): “Dieses Geistwesen leidet, weil es kein Vertrauen zu Gott
hatte. Dies ist ein Fehler, der immer eine Strafe nach sich zieht. Die Strafe würde aber größer und länger sein, wenn es keinen lobenswerten
Grund zu seinen Gunsten hätte, nämlich seine Absicht zu verhindern, dass sein Sohn in den Tod geschickt wurde. Gott, der gerecht ist
und auf den Grund des Herzens der Menschen schaut, bestraft ihn für seine verwerfliche Tat, nämlich für seinen Selbstmord, berücksichtigt
aber seine gute Absicht.”
Anmerkung von Allan Kardec: “Auf den ersten Blick scheint dieser Selbstmord berechtigt, da er als ein Akt
der Aufopferung angesehen werden kann. In gewisser Hinsicht stimmt es, aber nicht ganz. Wie der Geist des Heiligen Ludwig sagte, fehlte
diesem Mann Vertrauen zu Gott. Durch seine Tat verhinderte er vielleicht, dass sich die Bestimmung seines Sohnes erfüllte. Außerdem
war er nicht sicher, ob sein Sohn wirklich im Krieg sterben würde, und vielleicht hätte ihm die militärische Laufbahn die Gelegenheit
verschafft, etwas zu tun, was für seine spirituelle Entwicklung nützlich gewesen wäre[3]. Die Absicht des Vaters war sicherlich gut,
und Gott trägt ihr Rechnung. Diese gute Absicht mildert den begangenen Fehler und verdient Nachsicht. Aber ein Fehler ist nach wie
vor ein Fehler. Wenn es nicht so wäre, dann könnte man jede Art Verbrechen entschuldigen, man könnte sogar töten unter dem Vorwand,
dadurch etwas Gutes bewirken zu wollen. Würde zum Beispiel eine Mutter keinen Fehler begehen, wenn sie ihr Kind in dem Glauben tötete,
es direkt in den Himmel zu schicken? Wenn es so wäre, dann würden sich alle Verbrechen, die in den Religionskriegen durch den blinden
Fanatismus begangen wurden, ebenfalls rechtfertigen lassen.
In der Regel hat der Mensch nicht das Recht, sich das Leben zu nehmen,
da es ihm gegeben wurde, um es ihm zu ermöglichen, sich auf der Erde spirituell weiterzuentwickeln. So darf er es unter keinen Umständen
freiwillig verkürzen, obwohl niemand ihn daran hindern kann, falls er sich durch seinen freien Willen dafür entscheidet. In diesem
Fall muss er aber die Konsequenzen tragen. Die Art von Selbstmord, die sich auf den Selbstmörder am schlimmsten auswirkt, ist diejenige,
die aus Verzweiflung mit der Absicht begangen wird, sich den Drangsalen des Lebens zu entziehen. Denn die Drangsale des Lebens sind
nichts anderes als Sühnen und Prüfungen[4], durch die der Mensch gehen muss, um sich spirituell weiterzuentwickeln.
Selbstmord ist
nicht nur der freiwillige Akt, der den augenblicklichen Tod bewirkt. Er ist auch alles, was man macht, wovon man weiß, dass es seinen
physischen Körper schwächt und schließlich zu seinem vorzeitigen Tod führen wird.
Andererseits kann man nicht für einen Selbstmörder
gehalten werden, wenn man sich einem scheinbar unvermeidlichen Tod aussetzt, um das Leben eines Mitmenschen zu retten. Erstens, weil
man in diesem Fall keine Absicht hat, seinem Leben ein Ende zu setzen. Und zweitens, weil es keine Gefahr gibt, aus der Gott einem
nicht helfen kann, wenn seine Zeit zu sterben noch nicht gekommen ist. Sollte man aber tatsächlich dabei sterben, dann ist es ein
verdienstvolles Opfer, denn bei einem solchen Tod handelt es sich um einen Akt der Aufopferung zugunsten eines Mitmenschen.” (sieheDas Buch der Geister, Teil 4, Kapitel 1, Fragen 943 bis 957, und Das Evangelium im Lichte des Spiritismus, Kapitel 5, Abschnitte 29
u. 30)
[1] Italienkrieg: Es handelt sich hierbei um den Zweiten der insgesamt drei Italienischen Unabhängigkeitskriege. Dieser wurde 1859 zwischen dem Kaisertum Österreich und dem Königreich Sardinien, das mit Frankreich unter Napoleon III verbündet war, geführt. Die Niederlage des Kaisertums Österreich eröffnete den Weg zur Einigung Italiens.
[2] Strafe: All unsere Handlungen
unterliegen den Gesetzen Gottes. Wenn jemand einen Exzess begeht, dann erlässt Gott keinen solchen Urteilsspruch gegen ihn wie zum
Beispiel: “Beim Essen warst du unersättlich, so werde ich dich jetzt bestrafen.” Stattdessen zieht er eine Grenze. Wie ein Glas unter
zu hohem Druck zerbricht, so sind Erkrankungen, und selbst der Tod, die Folgen der begangenen Exzesse. Das macht die Strafe aus, die
nichts anderes ist als die Folge der Übertretung der besagten Gesetze. So verhält es sich bei allem im Leben.
Dementsprechend, indem
wir die Gesetze Gottes befolgen oder sie übertreten, sind wir selbst für unser eigenes zukünftiges Glück oder Unglück verantwortlich.
Diese Tatsache wird im folgenden Beispiel veranschaulicht:
Ein Vater gab seinem Sohn Erziehung und Bildung, das heißt die notwendigen
Mittel, um im Leben zurechtzukommen. Eines Tages schenkte er seinem Sohn ein Stück Ackerland und sagte zu ihm: “Jetzt werde ich dir
alle notwendigen Anweisungen und Werkzeuge geben, damit du dieses Ackerland fruchtbar machst und deine Existenz sicherst. (...) Wenn
du diese Anweisungen befolgst, dann wird dein Ackerland reichlich Ernte bringen und du wirst dich in deinen alten Tagen ausruhen können.
Wenn du sie aber nicht befolgst, dann wird es wenig oder keine Ernte bringen und du wirst nicht genug zu essen haben.” Nachdem er
dies gesagt hatte, ließ er seinen Sohn so vorgehen, wie er es für richtig hielt. Ist es nicht wahr, dass dieses Ackerland soviel Ernte
bringen wird, wie man sich um dessen Bewirtschaftung kümmert, und dass jede Vernachlässigung die Ernte beeinträchtigen wird? In seinen
alten Tagen wird der Sohn daher belohnt oder bestraft werden, je nachdem ob er die von seinem Vater gegebenen Anweisungen befolgt
oder vernachlässigt.
So geschieht es mit uns allen, wenn wir die Gesetze Gottes befolgen oder übertreten. Da nur Gott das Recht hat, das Leben des Menschen zu beenden – denn nur er kennt den genauen Zeitpunkt, zu dem die Seele jedes einzelnen Individuums in die geistige Welt zurückkehren muss – ist jeder Selbstmord ein Verstoß gegen seine Gesetze und ruft somit schädliche Auswirkungen auf das Leben nach dem Tod desjenigen hervor, der ihn begeht.
[3] Falls der junge Mann in den Krieg geschickt worden wäre, dann
hätte es zum Beispiel vorkommen können, dass seine dort gesammelten Erfahrungen ihn zu einem Pazifisten gemacht hätten, der dazu entschlossen
wäre, die Menschen über die Schrecken des Krieges aufzuklären. In diesem Fall wäre es für seine spirituelle Entwicklung nützlich gewesen,
all die Absurditäten des Krieges hautnah zu erleben.
Selbstverständlich muss man immer alles tun, was in seiner Macht steht, um etwa zu verhindern, dass sein Kind in den Krieg geschickt wird. Was aber der Geist des Heiligen Ludwig meint, ist, dass man – falls jeder Versuch, etwas zu verhindern, scheitert – nicht in Verzweiflung stürzen und extreme Entscheidungen treffen sollte. Stattdessen sollte man stets daran denken, dass, wenn sich etwas trotz aller Anstrengungen nicht verhindern lässt, dies daran liegt, dass es Gottes Wunsch ist, dass es geschieht. Und zwar aus einem Grund, den man im Augenblick nicht kennt, aber sicherlich einen nützlichen Zweck hat.
[4] Prüfungen: Alle Geistwesen werden eines Tages die spirituelle Vollkommenheit erreichen. Dazu müssen sie sich aber im Laufe unzähliger Reinkarnationen spirituell immer weiterentwickeln, indem sie Wissen erwerben, gravierende Fehler aus früheren Leben wiedergutmachen und durch sogenannte Prüfungen gehen. Diese Prüfungen bestehen darin, den Menschen mit ungünstigen Situationen zu konfrontieren, die in ihm Gefühle und Gedanken aufkommen lassen, an denen er für seinen moralischen Fortschritt arbeiten muss.