Einige Klärungen aus dem Buch Himmel und Hölle
(einem der Grundwerke der spiritistischen Lehre)
(Fortsetzung 10)
Louis und die Stiefelettenstepperin
Seit sieben oder acht Monaten war der junge Schuhmacher Louis G. mit einer jungen Frau namens Victorine
R. zusammen: Einer Stiefelettenstepperin, die er bald heiraten würde (...) Da das junge Paar sich als nahezu endgültig vereinigt betrachtete,
ging der Schuhmacher jeden Tag zu seiner zukünftigen Frau, damit sie zusammen zu Abend aßen und dadurch Geld sparten.
Eines Tages war
Louis zum Abendessen, wie üblich, bei seiner Verlobten, als beide anfingen, sich aus geringfügigem Anlass zu streiten. Da jeder eigensinnig
an seiner Meinung festhielt, eskalierte der Streit dermaßen, dass Louis den Tisch verließ und dabei schwor, nie wieder zurückzukommen.
Dennoch
kam er am nächsten Tag doch zurück, um sich zu entschuldigen. (...) Aber die junge Frau – die nach der Szene des Vorabends vielleicht
befürchtete, dass ein solcher Streit wieder geschehen könnte, nachdem beide geheiratet hätten – lehnte eine Versöhnung ab. Weder Beteuerungen,
noch Tränen, noch Worte der Verzweiflung konnten ihre Meinung ändern. Mehrere Tage später hatte Louis die Hoffnung, dass seine Geliebte
etwas flexibler sei. So entschloss er sich zu einem letzten Versuch: Als er bei ihr ankam, klopfte er so an, dass er sich zu erkennen
gab. Aber niemand öffnete ihm die Tür. Neues Flehen und neue Beteuerungen des armen Verstoßenen durch die Tür hindurch konnten das
Herz seiner unversöhnlichen Verlobten nicht rühren.
“Dann leb wohl, grausame Seele!”, schrie schließlich der junge Mann, “Leb wohl
für immer! Versuch, einen Ehemann zu finden, der dich so sehr liebt wie ich!” Zugleich hörte Victorine ein stumpfes Stöhnen, und daraufhin
das Geräusch eines Körpers, der an der Tür entlang auf den Boden glitt. Aufgrund der Stille, die darauf folgte, dachte sie, dass Louis
sich auf die Türschwelle gesetzt hatte und darauf wartete, dass sie herauskam. Allerdings war sie dazu entschlossen, keinen Fuß nach
draußen zu setzen, solange er dort war.
Etwa 15 Minuten später stieß jemand, der gerade an der Stelle vorbeiging, einen Schrei des
Schrecks aus und rief um Hilfe. Sofort erschienen die Nachbarn; und Victorine, sobald sie die Tür öffnete, schrie entsetzt auf, als
sie ihren Verlobten blass und leblos auf dem Boden liegen sah. Jeder beeilte sich, ihm Hilfe zu leisten, aber bald merkte man, dass
alle Anstrengungen nutzlos waren, da er bereits tot war. Der arme junge Mann hatte sich ein Messer in die Herzgegend gestoßen. (...)
Im
August 1858 beschloss die Pariser Gesellschaft für Spiritistische Studien, diesen Fall zu untersuchen. Dazu wurden zunächst folgende
Fragen an den Geist des Heiligen Ludwig gestellt:
(Frage): “Trägt die junge Frau, die unabsichtlich zum Selbstmord ihres Verlobten
beitrug, die Verantwortung dafür?”
(Der Geist des Heiligen Ludwig): “Ja, weil sie ihn nicht liebte.”
(Frage): “Hätte sie dann, um dieses
Unglück zu vermeiden, ihren Verlobten heiraten sollen, trotz ihrer Abneigung gegen ihn?”
(Der Geist des Heiligen Ludwig): “Sie suchte
eine Gelegenheit, sich von ihm zu trennen. Daher tat sie am Anfang ihrer Beziehung das, was sie später ohnehin getan hätte.”
(Frage): “So
besteht ihre Verantwortung für das Geschehene darin, in ihrem Verlobten Gefühle genährt zu haben, die sie nicht teilte und schließlich
zu seinem Selbstmord führten?”
(Der Geist des Heiligen Ludwig): “Genau, so ist es.”
(Frage): “Aber der Grad an Verantwortung eines Menschen
hängt von der Schwere seines Fehlers ab. Demzufolge ist Victorines Grad an Verantwortung nicht so hoch, wie wenn sie den Selbstmord
ihres Verlobten absichtlich herbeigeführt hätte, nicht wahr?”
(Der Geist des Heiligen Ludwig): “Ganz genau.”
(Frage): “Wird die Verwerflichkeit
von Louis´ Entscheidung, sich das Leben zu nehmen, durch die Verzweiflung gemildert, in die Victorines Unnachgiebigkeit ihn stürzte?”
(Der
Geist des Heiligen Ludwig): “Ja, weil sein Selbstmord – der aufgrund der Liebe, die er für sie empfand, geschah – in den Augen Gottes
weniger verwerflich ist als der Selbstmord eines Menschen, der sich das Leben nimmt, um sich den Prüfungen des Lebens zu entziehen.”
Auf
einer anderen Sitzung rief die Pariser Gesellschaft für Spiritistische Studien den Geist von Louis G. an und stellte ihm folgende
Fragen:
(Sitzungsteilnehmer): “Wie denken Sie jetzt über das, was Sie getan haben?”
(Louis): “Victorine ist ein undankbarer Mensch.
Ich habe einen Fehler gemacht, mir ihretwegen das Leben zu nehmen, da sie es nicht verdiente.”
(Sitzungsteilnehmer): “Liebte sie Sie
dann nicht?”
(Louis): “Nein. Am Anfang hat sie es sich eingebildet, mich zu lieben. Aber der Streit, den wir hatten, öffnete ihr die
Augen. So war sie froh, diesen Vorwand zu haben, um sich von mir zu trennen.”
(Sitzungsteilnehmer): “Und haben Sie Victorine tatsächlich
geliebt?”
(Louis): “Ich hegte leidenschaftliche Gefühle für sie; ich glaube, das war schon alles, was ich für sie empfunden habe. Wenn
ich reine Liebe für sie empfunden hätte, dann hätte ich ihr keinen Kummer bereiten wollen.”
(Sitzungsteilnehmer): “Wenn sie gewusst
hätte, dass Sie vorhatten, Selbstmord zu begehen, hätte sie Ihnen eine Versöhnung weiterhin verweigert?”
(Louis): “Ich weiß es nicht;
aber ich glaube nicht, da sie kein böser Mensch ist. Andererseits würde sie an meiner Seite nicht glücklich sein; dann war es für
sie doch besser, dass es so gekommen ist.”
(Sitzungsteilnehmer): “Als Sie bei Victorine ankamen, hatten Sie schon die Absicht, sich
das Leben zu nehmen, falls sie Ihnen eine Versöhnung verweigerte?”
(Louis): “Nein, ich dachte nicht daran, da ich nicht glaubte, dass
sie so hartnäckig sein würde. Erst als ich ihre Unnachgiebigkeit sah, habe ich den Kopf verloren.”
(Sitzungsteilnehmer): “Sie scheinen
ihren Selbstmord nur zu bereuen, weil Victorine ihn nicht verdiente. Ist das wirklich der einzige Grund für Ihre Reue?”
(Louis): “Im
Augenblick, ja. Ich bin noch in einem verwirrten Zustand: Ich komme mir so vor, als ob ich noch an Victorines Haustür wäre. Dennoch
fühle ich etwas anderes, was ich nicht beschreiben kann.”
(Sitzungsteilnehmer): “Werden Sie später dieses Gefühl, das Sie jetzt nicht
beschreiben können, begreifen?”
(Louis): “Ja, sobald ich klarer denken kann... Mein Selbstmord war ein Fehler. Ich hätte Victorine
in Ruhe lassen und ihre Entscheidung akzeptieren sollen... Ich war schwach und trage die Folgen davon... Leidenschaft macht den Menschen
blind und lässt ihn verrückte Dinge tun. Das begreift er aber erst, wenn es schon zu spät ist.”
(Sitzungsteilnehmer): “Sie sagen, dass
Sie die Folgen Ihrer Schwäche tragen. Was für Folgen tragen Sie?”
(Louis): “Ich habe einen Fehler gemacht, indem ich mein Leben verkürzte.
Ich hätte das nicht machen dürfen. Ich hätte lieber alles ertragen sollen, als meinem Leben vorzeitig ein Ende zu setzen. Aus diesem
Grund bin ich unglücklich. Ich leide; immer noch ist sie es, die mich leiden lässt. Ich komme mir so vor, als ob ich noch dort an
der Tür dieser undankbaren Frau wäre! Sprechen Sie mich nicht mehr auf sie an; ich will nicht mehr an sie denken, weil es mir sehr
weh tut. Leben Sie wohl.”
Kommentar von Allan Kardec: “Hier sieht man einen neuen Beweis der Gerechtigkeit, die die Strafe gemäß dem
Grad an Verantwortung desjenigen bestimmt, der den Fehler beging. In der oben geschilderten Geschichte ist es Victorine, die für das
tragische Ereignis mehr Verantwortung trägt. Denn sie machte Louis Illusionen, indem sie ihn eine Liebe hegen ließ, die sie nicht
teilte. Was Louis angeht, wird er bereits durch das Leid bestraft, das er gerade erlebt. Seine Strafe ist aber mild, da er in einem
Moment der Verzweiflung lediglich einem unüberlegten Impuls nachgab, im Gegensatz zu den Menschen, die einen kalt geplanten Selbstmord
mit dem Ziel begehen, sich den Prüfungen des Lebens zu entziehen.”