Allan Kardec und die Entstehung des Spiritismus:
Teil 2
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3) Die ersten Erfahrungen von Professor Rivail mit der Manifestation von Geistwesen

Wie bereits erwähnt, wurde das Phänomen der rückenden Tische in der Mitte des 19. Jahrhunderts zu einer Sensation in Europa, vor allem in Frankreich, und erregte soviel Aufmerksamkeit, dass die Presse oft davon berichtete. Professor Rivail, der Kenner und Forscher des Magnetismus[1] war, schilderte das erste Mal, dass er von jenem noch wenig verstandenen Phänomen hörte:

“Es war im Jahr 1854, dass ich zum ersten Mal von den rückenden Tischen gehört habe. Einmal traf ich den Magnetiseur, Herrn Fortier, den ich seit langem kannte und der zu mir sagte:

»Weißt du schon von der seltsamen Eigenschaft des Magnetismus, die man gerade entdeckt hat? Es scheint, als ob nicht nur Menschen magnetisiert werden könnten, sondern auch Tische, die man nach Lust und Laune dazu bringen kann, sich zu drehen und zu gehen.«

»In der Tat ist es sehr seltsam«, antwortete ich, »dennoch, im Grunde genommen, erscheint es mir nicht absolut unmöglich. Denn das magnetische Fluidum, das eine Art Elektrizität ist, kann durchaus auf träge Körper einwirken und diese dazu bringen, sich zu bewegen.«

Nach diesem Treffen hatte Rivail auch Gelegenheit, in den Zeitungen über Experimente zu lesen, die in manchen französischen Städten durchgeführt worden waren und keinen Zweifel an der Existenz des Phänomens ließen. Einige Zeit später traf Rivail Herrn Fortier wieder, der diesmal sagte:

»Ich habe dir etwas viel Erstaunlicheres zu erzählen: Nicht nur kann man einen Tisch sich drehen lassen, indem man ihn magnetisiert, sondern ihn auch sprechen lassen. Denn, wenn er befragt wird, antwortet er.«

»Das ist etwas anderes.«, sagte Rivail, »Ich werde es erst glauben, wenn ich es sehe und man mir beweist, dass ein Tisch ein Gehirn zum Denken und Nerven zum Spüren hat, und dass er somnambul werden kann. Bis dahin gestatte mir, das als reines Märchen zu betrachten.«

Rivail kommentierte folgendermaßen seine Skepsis:

“Ich glaubte an die Möglichkeit, dass die Bewegung durch eine mechanische Kraft verursacht wurde. Da ich aber weder die Ursache noch das Naturgesetz, welches das Phänomen regierte, kannte, erschien es mir absurd, Intelligenz auf etwas rein Materielles zurückzuführen. Ich befand mich in der Lage der Ungläubigen von heute, die es nur leugnen, weil sie etwas sehen, was sie nicht verstehen. (...)

Ich stand daher einer unerklärten Tatsache gegenüber, die sich offenbar den Naturgesetzen widersetzte und die meine Vernunft nicht akzeptierte. Ich hatte noch nichts gesehen oder beobachtet. Experimente, die in Anwesenheit seriöser und zuverlässiger Menschen durchgeführt worden waren, bestätigten meine Ansicht über die Möglichkeit einer rein materiellen Auswirkung. Aber die Vorstellung eines sprechenden Tisches wollte mir nicht in den Kopf gehen.

Im folgenden Jahr, es war Anfang 1855, traf ich mich mit Herrn Carlotti, mit dem ich seit 25 Jahren befreundet war. Er erzählte mir für ca. eine Stunde von jenem Phänomen mit der Begeisterung, die er allen neuen Ideen widmete. Er kam aus Korsika, hatte feuriges und energisches Temperament, und in ihm hatte ich immer die Eigenschaften geschätzt, die eine große und schöne Seele ausmachen. Dennoch misstraute ich seiner Begeisterung. Er war der Erste, der mir von der Einwirkung von Geistwesen erzählte. Und zwar erzählte er so viele erstaunliche Dinge, dass er, statt mich zu überzeugen, in mir noch mehr Fragen aufkommen ließ.

»Eines Tages wirst du einer von uns sein.«, sagte er.

»Ich sage nicht, dass ich es nicht sein werde. Das wird sich zeigen.«, antwortete ich.

Einige Zeit später, gegen Mai 1855, ging ich zu einer Somnambulen namens Frau Roger in Begleitung ihres Magnetiseurs, Herrn Fortier. Dort begegnete ich Herrn Pâtier und Frau Plainemaison, die mir, wie Herr Carlotti, von jenem Phänomen erzählten, nur in einem ganz anderen Ton. Herr Pâtier war Beamter reiferen Alters, sehr gebildet, ernst, kühl und ruhig. Seine ruhige Ausdrucksweise, frei von jeglicher Begeisterung, machte auf mich einen tiefen Eindruck. Als er mich somit einlud, mir die Experimente anzuschauen, die bei Frau Plainemaison in der Grange-Batelière-Str. 18 stattfanden, sagte ich sofort zu. (...)

Es war auf dieser Sitzung, dass Rivail zum ersten Mal das inzwischen berühmt gewordene Phänomen der rückenden Tische persönlich sah: Sie drehten sich, sprangen und gingen durch den Raum, so dass es keinen Platz für Zweifel an der Echtheit des Phänomens ließ. Er sah auch, wie einige von Geistwesen stammende Botschaften auf folgende Weise empfangen wurden: Ein Stück Kreide wurde am Boden eines Korbs befestigt und dann auf eine Schieferplatte gestellt. Anschließend legte Frau Plainemaison, die als Medium fungierte, ihre Finger auf den Korbrand. Danach begann der Korb, sich zu bewegen und auf die Schieferplatte Worte und Sätze spiralförmig zu schreiben. Rivail war noch weit davon entfernt, sich eine Meinung über jene Tatsachen zu bilden. Dennoch kommentierte er Folgendes:

“Bei jenen scheinbaren Nichtigkeiten und dem Zeitvertreib, den man daraus machte, ahnte ich etwas Ernstes, vielleicht die Offenbarung eines neuen Naturgesetzes. So habe ich mich fest dazu entschlossen, gründlich nachzuforschen.

Wenig später trat eine Gelegenheit auf, die es Rivail ermöglichte, jenes Phänomen näher zu beobachten. Auf einer Sitzung bei Frau Plainemaison lernte er die Familie Baudin kennen. Herr Baudin lud ihn ein, an den in seinem Haus wöchentlich abgehaltenen Sitzungen teilzunehmen, von denen Rivail ein regelmäßiger Gast wurde. Diese Sitzungen hatten zahlreiche Besucher: Neben den festen Teilnehmern wurde jeder hereingelassen, der darum bat. Als Medien fungierten die beiden jungen Töchter des Ehepaares, nämlich die 16-jährige Caroline und die 14-jährige Julie. Der Korb mit der Kreide wurde auf eine Schieferplatte gestellt, die Mädchen legten ihre Finger auf dessen Rand und der Korb begann, sich zu bewegen und diverse Botschaften zu schreiben. Diese waren entweder ganz spontane Texte oder Antworten auf die Fragen der Anwesenden, von denen einige mental gestellt worden waren: ein klarer Hinweis auf die Manifestation fremder Intelligenzen. Wenn diese gefragt wurden, wer oder was sie seien, lautete ihre unverblümte Antwort: Geistwesen. Das heißt, Seelen von Menschen, die auf der Erde oder auf anderen materiellen Welten gelebt hatten und sich nun in der geistigen Welt befanden.

  



[1]   Magnetismus:   Am Ende des 18. Jahrhunderts entdeckte der deutsche Arzt Franz Anton Mesmer (1734-1815), dass der Mensch eine Art Energie besitzt, die er tierischen Magnetismus nannte und später auch als magnetisches Fluidum bekannt wurde. Er fand heraus, dass, wenn diese Energie in Disharmonie gerät, Erkrankungen im menschlichen Körper entstehen können. Auf der Grundlage dieser Erkenntnis entwickelte er Heiltechniken, von denen eine darin bestand, durch Handauflegen Energie von einem gesunden Menschen (genannt Magnetiseur) auf einen Erkrankten zu übertragen, ohne ihn berühren zu müssen. Diese Technik führte zur Heilung zahlreicher Menschen, trotz des starken Widerstandes der konventionellen Medizin der damaligen Zeit. Später entdeckte ein Schüler Mesmers, nämlich der Marquis von Puységur (1751-1825), dass die Übertragung dieser Energie auf gewisse Menschen bewirkte, dass diese in einen Trancezustand fielen, der dem Somnambulismus (Schlafwandeln) ähnelte: Aus diesem Grund nannte er ihn künstlichen Somnambulismus. Menschen in diesem Zustand wurden Somnambule genannt und handelten oft so, als ob sie hypnotisiert wären. In anderen Fällen stellte Puységur aber fest, dass gewisse Menschen während dieses Zustandes über außergewöhnliche Wahrnehmungen verfügen, wie zum Beispiel über die Fähigkeit, die Gedanken anderer zu lesen, in verschlossenen Räumen aufbewahrte Gegenstände und Hunderte von Kilometern entfernte Menschen zu sehen, die Erkrankung im eigenen Körper oder im Körper einer anderen Person zu sehen und ausführlich zu beschreiben, sowie die angemessene Behandlung dagegen anzugeben. Diese Fähigkeiten wurden in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts von zahllosen renommierten Forschern gründlich untersucht, von denen viele die Ergebnisse ihrer Nachforschungen in Büchern veröffentlichten.

 

 

 

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